
Es gibt Impulse, die nicht nur Veränderungen ankündigen, sondern sie unwiderruflich auslösen. Ein solcher Impuls war in der Eingliederungshilfe längst überfällig: Statt in alten Bahnen weiterzugehen, begann ein Aufbruch. Ein Aufbruch hin zu mehr Selbstbestimmung, echter Teilhabe und neuen Formen des Miteinanders. Wer diesen Wandel mitgestalten will, braucht nicht nur Ideen, sondern vor allem den Mut, vertraute Pfade zu verlassen und sich auf Unbekanntes einzulassen. Insbesondere da das BTHG für viele nicht so wurde, was es ein versprach zu werden.
Vor ca. fünf Jahren trat die letzte Reformstufe des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) in Kraft und ist nicht erst seitdem ein allgegenwärtiges Thema in Fachkreisen, das weitreichende Veränderungen für die Betreiber der Eingliederungshilfe zur Folge hat. Zeitgleich steigt die Zahl der Menschen mit Behinderung, die die Leistungen der sozialen Teilhabe in Anspruch nehmen, weiter an. Der Zuwachs lag nach Angaben der Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe und der Eingliederungshilfe (BAGüS) zwischen 2020 und 2022 bei rund 2 %. Insgesamt nahmen im Jahr 2022 rund 462.000 Menschen diese Leistungen in Anspruch. Rund 58 % wurden außerhalb besonderer Wohnformen betreut – ein Anteil, der zwischen 2020 und 2022 zugenommen hat (ca. +8 %). Die Anzahl der Menschen in besonderen Wohnformen hingegen ist leicht rückläufig.
Die Fallzahlen zeigen eine Korrelation zwischen der primären Behinderung und der in Anspruch genommenen Wohnform. So lag im Jahr 2022 der Anteil der Menschen mit Behinderung in besonderen Wohnformen bei rund 64 %. Außerhalb besonderer Wohnformen zeichnet sich ein konträres Bild: Hier ist der Anteil der Menschen mit geistiger Behinderung deutlich geringer (nur rund 23 %), während der Anteil der Menschen mit einer primären seelischen Behinderung bei rund 71 % liegt.
Doch so begrüßenswert dieser Wandel auch ist – er stellt die Träger, die diese Unterstützung organisieren sollen, vor ernsthafte Herausforderungen. Die hierin geplante Dezentralisierung der Angebote hinterlässt offene Fragen:
- Welchen neuen strategischen Implikationen müssen sich die Betreiber durch den Paradigmewechsel stellen?
- Wie soll eine dezentralisierte Angebotsstruktur vor dem Hintergrund des Fachkräfte- und Personalmangels umgesetzt werden?
- Wo finden sich Immobilien oder Grundstücken, die für die Zielgruppe nutzbar sind und der teilhabe entsprechen?
- Was geschieht mit den bestehenden Immobilien auf den zentralisierten Flächen?
Paradigmenwechsel – strategische Implikationen
Der Paradigmenwechsel von fürsorgeorientierten hin zu teilhabeorientierten und personenzentrierten Angebotsstrukturen stellt die Eingliederungshilfe vor grundlegende Herausforderungen und erfordert ein strukturelles Update. Es reicht nicht mehr aus, für- und versorgende Hilfe zu leisten – vielmehr sollen Menschen mit Unterstützungsbedarf selbstbestimmt mitgestalten und mitentscheiden können. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, bedarf es einer tiefgreifenden Neudefinition und Anpassung der bestehenden Organisationskultur und Prozesse. Dieser Wandel ist ein sensibler, partizipativer Prozess, der die aktive Mitarbeit der Nutzer*innen und der Mitarbeitenden erfordert. Es geht verstärkt darum, offene Dialogräume zu schaffen, Beteiligung zu ermöglichen und eine Kultur der Zusammenarbeit auf Augenhöhe zu fördern. Die Herausforderung: Gerade in Einrichtungen mit starren Hierarchien braucht dieser Wandel Fingerspitzengefühl. Wer etwas ändern will, muss erklären, einladen, überzeugen. Führungskräfte müssen den Wandel nicht nur mittragen, sondern vorleben. Das verlangt nicht nur fachliche Kompetenz, sondern auch Offenheit und Selbstreflexion.

Dezentrale Angebotsstrukturen trotz Personalmangel – eine Herausforderung mit Potenzial
Der Fach- und Arbeitskräftemangel im sozialen Sektor zählt zu den gravierendsten Hemmnissen bei der Umsetzung personenzentrierter Ansätze. In den kommenden Jahren werden rd. 25 % der Fach- und Assistenzkräfte das Renteneintrittsalter erreichen (vgl. Briefvorlage Die Fachverbände Stand Oktober 2013).Insgesamt sind derzeit bundesweit rd. 1.836.000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte in den Berufen der Erziehung, Sozialarbeit & Heilerziehungspflege tätig (Berufsbild 831 der Bundesagentur für Arbeit). Seit 2020 ist die Anzahl um rd. 15 % angestiegen (vgl. Berufe auf einen Blick – Statistik der Bundesagentur für Arbeit). Von den 1.836.000 Beschäftigten sind ca. 485.000 Menschen im Sozialwesen tätig.
Trotz zunehmendem Beschäftigungsstand zählt die Soziale Arbeit zu den Berufen mit der größten Fachkräftelücke sowie einer zunehmenden De-Professionalisierung des Berufstandes. Die Deutsche Gesellschaft für Soziale Arbeit betont die zunehmende Komplexität und Anforderungen an das Fachpersonal bei zeitgleichem Mangel an sicheren und angemessen entlohnten Arbeitsstellen sowie der zunehmendem Kostendruck (vgl. Microsoft Word – Positionspapier Fachkräftemangel und De-Professionalisierung_final). Infolgedessen ist es für die Leistungserbringer schwierig, die bestehenden Angebote zu halten und diese zukunfts- und bedarfsorientiert aus eigenen Ressourcen weiterzuentwickeln.
Dies erfordert kreative und systemübergreifende Lösungsansätze, die den Ressourcenmangel akzeptieren und mit adäquaten Ansätzen und Modellen entgegentreten.
Ressourcenbündelung im Sozialraum: Durch die gezielte Vernetzung mit örtlichen Akteur*innen (Vereine, Verbände, etc.), kommunalen Stellen und ambulanten Diensten können lokal verankerte Unterstützungsnetzwerke geschaffen werden, die tragfähige Alternativen zu institutionellen Versorgungsformen bieten.
Flexibilisierung der Dienste: Mobile, funktionale Einsatzteams und multiprofessionelle Unterstützungssettings ermöglichen eine bedarfsorientierte Begleitung in unterschiedlichen Lebenslagen – und das unabhängig von einem stationären Bezugspunkt. In der Pflege sind Springerpools bereits etablierter als in der Eingliederungshilfe. Eine solche funktionale Arbeitsform wird es in Zukunft brauchen, um im Wettbewerb bestehen zu können.
Digitale Entlastung: Der Einsatz digitaler Tools zur Koordination, Dokumentation und Kommunikation bietet ein bislang nicht ausgeschöpftes Entlastungspotenzial, das insbesondere im Kontext dezentraler Organisationen und zunehmender Ressourcenknappheit an Bedeutung gewinnt. Die Voraussetzung ist der Ausbau einer flächendeckenden Internetstruktur. Auch hier müssen zunächst Investitionen in hohem Maße getätigt werden, um mittel- bis langfristig eine entlastende Wirkung erzielen zu können.
Partizipation als Ressource: Die Stärkung von Selbstbestimmung und Eigenverantwortung bei den Nutzer*innen ist zudem nicht nur im Sinne der Teilhabe von zentraler Bedeutung, sondern kann langfristig auch personelle Kapazitäten freisetzen – sofern diese Prozesse professionell begleitet werden. Ein solcher Arbeitsansatz ist langwierig und wird je nach Ausprägungsgrad an Unterstützungsleistungen punktuell an die Grenzen kommen.
Zentral für das Gelingen dieser Transformation ist ein partizipativer, von Offenheit und Dialog geprägter Prozess, der durch externe Moderation flankiert werden kann. Die Begleitung durch unbeteiligte Dritte ermöglicht es, persönliche Befindlichkeiten zu relativieren und stattdessen sachorientierte und am BTHG ausgerichtete Lösungen zu entwickeln. Sie kann Veränderungsprozesse professionell begleiten und dabei helfen, strukturelle Anpassungen an die Anforderungen des BTHG sachlich zu steuern. Dabei wird es keine universelle, sondern angebots- bzw. portfolioorientierte Lösungen geben, die abhängig von der aktuellen Ausgangslange und den vorhandenen Immobilien sind.
Geeignete Immobilien und Grundstücke – Teilhabe braucht Räume
Wenn es um Immobilien geht, wird deutlich: Teilhabe braucht Raum – und zwar den richtigen. Nicht jeder Standort eignet sich. Es braucht gute Anbindung an den öffentlichen Personennahverkehr, soziale Durchmischung, Infrastruktur. Kooperationen mit Wohnungswirtschaft, Kommunen und Kirchen können helfen, den Zugang zu geeigneten Objekten zu ermöglichen. Es gilt hierbei ggf. auch stigmatisierte Vorurteile abzubauen und auf Seiten der Immobilieneigentümer Sicherheit und Verlässlichkeit zu bieten.
Zeitgleich erfordert der richtige Raum auch die Notwendigkeit ausreichender Wohn- und Fachleistungsflächen. Während bei der Neuerrichtung von Immobilien bereits ein gutes Flächenverhältnis von Wohn- und Fachleistungsflächen sowie möglichst wenige Mischflächen berücksichtigen in der Planung berücksichtigt werden konnten, stehen die Eigentümer der Bestandsimmobilien diesbezüglich vor einer Herausforderung mit Konsequenzen für die Refinanzierung. Häufig lassen sich die vorhandenen Flächen nicht eindeutig der Wohn- oder Fachleistungsfläche zu ordnen. Dies führt unteranderem zu einem hohen Anteil an Mischflächen, der die Refinanzierungsgrundlage schwächt.
Zukunft der zentralisierten Angebotsgelände – zwischen Rückbau, Umnutzung und Öffnung
Die bestehenden, oftmals großräumig angelegten Versorgungszentren und Quartiere der Eingliederungshilfe werfen die Frage auf, wie mit dieser baulichen Infrastruktur im Zuge einer dezentralisierten Strategie verfahren werden kann. Ein Leerstand der Immobilien widerspricht dem Bedarf an Angeboten und Wohnraum sowie den Nachhaltigkeitsaspekten. Jedoch gibt keine pauschalen Antworten, sondern bedarf einer differenzierten und kontextbezogenen Auseinandersetzungen mit der Angebotsstruktur: Rückbau, Umnutzung, Öffnung ins Quartier – alles ist möglich, wenn es sinnvoll gestaltet wird. Ein zentraler Standort muss somit kein Auslaufmodell sein, solange der Leistungsträger dies mitgeht.
Fazit
Das BTHG hat vieles in Bewegung gesetzt. Aber Wandel braucht Zeit, Beteiligung der Mitarbeitenden und Nutzer*innen sowie eine klare Haltung und zugleich keine starren Richtlinien. Nur so kann aus einem Gesetz gelebte Teilhabe werden. Feststeht, dass es hierfür Reformen braucht, die zugleich in den Zeiten der immer knapper werdenden Ressourcen tragbar sind und für die Nutzer*innen einen echten Mehrwert im Sinne der Selbstbestimmung und Teilhabe bieten kann. Es bedarf dafür einer guten Kommunikation mit den Leistungsträgern, Leistungserbringern und Nutzer*innen. Zusätzlich kann eine externe Beratung frische Perspektiven und fachliche Expertise in komplexe Veränderungsprozesse der Eingliederungshilfe einbringen. Sie hilft, blinde Flecken zu erkennen, bestehende Strukturen kritisch zu hinterfragen sowie neue Ansätze professionell zu begleiten und in kurzen Zeiträumen umzusetzen. So wird Veränderung planbar, partizipativ und nachhaltig wirksam.
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Carolina Schrage
Beraterin Sozialwirtschaft
E-Mail: c.schrage@sozialgestaltung.de
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